Fischer im Recht – Beleidigung: Habe die Ehre! Eine Kolumne von Thomas Fischer
Die Strafbarkeit von Ehrverletzungen ist umstritten. Aber was bedeutet „Ehre“? Woher kommt sie? Und warum verteidigen wir unsere Ehre so verbissen?
Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne finden Sie hier – und auf seiner Website.
Der geniale Helmut Qualtinger schildert – in der Rolle eines aggressiv-kriecherischen Kleinbürgers und Nazi-Mitläufers – wie er einen von ihm früher schikanierten Überlebenden des Holocaust nach dem Krieg wiedertrifft: „Ich sage: ‚D‘ Ehre!‘ – Keine Antwort. Ich noch amol: ‚Die Ehre!'“ Der so Gegrüßte reagiert nicht. Der Erzähler nimmt dieses Unterlassen zum Anlass, seine früheren Schikanen gegen den Juden zu rechtfertigen und das Überleben des Opfers als Provokation zu deuten.
Was geschieht hier? „Die Ehre!“ ist ein verstümmelter Gruß im Österreichischen wie das dahingemurmelte „‘ß Gott!“ in Süddeutschland oder das „Tach!“ des Nordens. „Habe die Ehre!“ wäre die längere Version, freilich immer noch unverständlich für Bewohner der norddeutschen Tiefebene. „Es ist mir eine Ehre, Sie grüßen zu dürfen!“, wäre die Langfassung. Selbst diese spielt noch mit Ambivalenzen der Sprache. Denn das „Haben“ der Ehre ist zugleich Angebot wie Aufforderung, Bitte wie Unterstellung:
Qualtinger betont das im zweiten Satz, fordernd und bedrohlich, mit der kaum verhüllten Gewaltandrohung eines Menschen, der seine Selbstbehauptung auf ein letztes Bollwerk zurückgezogen hat, das er bis zur Grenze der Selbst-Vernichtung, jedenfalls aber über die Grenze der Fremd-Vernichtung hinaus, zu verteidigen sucht. In der „Ehre“, um die es da geht, liegt etwas Bedrohliches, Verlorenes. Wir kennen es aus den Texten und Subtexten von Menschen, die große innere Furcht nach außen kehren: Deutsche Ehre! Arische Ehre! Ehre der Kompanie! Männerehre! Ehre des Propheten! Solche Zuschreibungen von Ehre enthalten starke Elemente des Fordernden, Verlangenden, Schwachen: Gib‘ mir die Ehre! Erkenne mich an! Verachte mich nicht! Und zugleich Elemente der Behauptung, der Überwältigung: Gib mir, was mir zusteht! Erkenne mich als Herrn meiner (und deiner) Welt! In diesen beiden Flügeln des Ehr-Anspruchs steckt schon viel von seiner erstaunlichen Substanz und Wirkkraft.
Die Gesetzeslage
Über die Ehre und ihren strafrechtlichen Schutz gibt es außerordentlich viel Literatur. Dabei erwähnt die zentrale Vorschrift, der Paragraf 185 des Strafgesetzbuchs, den Begriff erstaunlicherweise gar nicht: „Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, heißt es dort. In Paragraf 186 ist die „üble Nachrede“ mit Strafe bedroht: „Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist…“ In Paragraf 187 schließlich folgt die „Verleumdung“; das ist eine üble Nachrede, bei der der Täter die Unrichtigkeit der von ihm behaupteten Tatsache sicher kennt. Paragraf 188 bestraft die üble Nachrede und die Verleumdung gegen „Personen des politischen Lebens“; Paragraf 189 stellt das „Verunglimpfen des Andenkens von Verstorbenen“ unter Strafe. Die angedrohten Strafen liegen im Mindestmaß bei einem Monat, im Höchstmaß bei zwei Jahren (§§ 185, 186, 187), jeweils wahlweise mit Geldstrafe. Bei öffentlicher Begehung drohen erhöhte Strafen bis zu fünf Jahren. Die weitaus meisten Fälle werden in der Praxis mit Geldstrafen geahndet, wenn die Verfahren nicht schon gegen Erfüllung von Auflagen eingestellt werden. Freiheitsstrafen ohne Bewährung kommen praktisch kaum vor.
Die etwas altertümlich wirkenden Formulierungen bergen allerhand diffizile Einzelheiten, die hier keine Rolle spielen. Wichtig ist aber die Unterscheidung zwischen Paragraf 185 und den Paragrafen 186/187: „Beleidigung“ meint eine (eigene) Wertung des Täters, „Üble Nachrede/Verleumdung“ betreffen Behauptungen von (nachprüfbaren) Tatsachen, die zu abwertenden Wertungen von Dritten führen können. In dieser Unterscheidung offenbart sich schon recht viel vom Sinn des Gesetzes.
Sie ist aber nicht immer leicht zu treffen: „Herr X ist wegen Betrugs vorbestraft“ ist sicher eine Tatsachenbehauptung, würde also unter die Paragrafen 186/187 fallen. Bei der Aussage „Herr X ist ein Betrüger“ wird es schon schwieriger – sie kann beides sein. „Herr X hat einen betrügerischen Charakter“ ist eher Wertung als überprüfbare Tatsachenbehauptung, gehört also zu Paragraf 185. Das gilt auch für die üblichen Beschimpfungen anderer als „geisteskrank“, „irre“, „dumm“ und so weiter. Beleidigungen kann man sowohl gegenüber dem Geschädigten selbst als auch gegenüber Dritten äußern, üble Nachreden, wie sich aus dem Wortlaut („in Beziehung auf einen anderen“) ergibt, nur gegenüber Dritten. Daher sind ehrverletzende Tatsachenbehauptungen, die nur zum Betroffenen geäußert werden, als Beleidigungen (§ 185) anzusehen. In allen Fällen setzt die Strafverfolgung einen ausdrücklichen Strafantrag des Berechtigten voraus, Beleidigungsdelikte werden also nicht von Amts wegen verfolgt. Auch sonst gelten Besonderheiten, auf die ich noch zu sprechen komme.
Die „Ehre“ einer Person ist etwas, das vom Recht der physischen und psychischen Existenz und Integrität dieser Person gleichgestellt wird: Nach Paragraf 253 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann „Schmerzensgeld“ verlangen, wer an Körper, Gesundheit, Freiheit oder sexueller Selbstbestimmung verletzt ist. Dem ist die „Ehre“ – obwohl nicht ausdrücklich genannt – gleichgestellt. Über den pekuniären Wert des „Schmerzes“, den eine Beschimpfung mit Tiernamen oder Ausdrücken der Verachtung verursacht, streiten jährlich Tausende vor den Gerichten, und „Leitfäden“ finden ihre Abnehmer, in denen der „Schmerzenswert“ aller denkbaren Anreden von „Arschloch“ und „Behinderter“ bis „Winkeladvokat“ und „Zugereister“ aufgelistet ist.
Ehre und Strafverfolgung
Der Regelungsaufwand in insgesamt 11 Paragrafen (§§ 185 bis 200) erscheint erstaunlich, da doch die Strafdrohungen für Ehrverletzungsdelikte durchweg so gering sind, dass der Eindruck nahe liegt, das Rechtsgut sei dem Gesetz nicht besonders viel wert: Diebstahl oder Betrug, Körperverletzung oder Nötigung sind meist mit höherer Strafe bedroht.
Das war nicht immer so. Im Gegenteil: Lange Zeit galt die Ehre als das neben dem Leben wichtigste Gut, ihre Verletzung als infamer als Raub, Betrug, Diebstahl oder Körperverletzung. Wo „Ehre“ nicht dem Individuum, sondern der Person als Vertreter von Sippen, Kasten, Klassen galt, wurde mit der Ehre vor allem dieser Status, mithin die ganze soziale Existenz angegriffen. Umgekehrt formulierte dieses Verständnis von Ehre einen hohen Anspruch an die Innengeleitetheit des Verhaltens: Der in engen, praktisch unveränderbaren Schubladen gefangene Mensch muss sich zu jeder Zeit „ehrenhaft“ erweisen, also sein Verhalten am normativen Kontext seiner Gruppe ausrichten. Die Weltliteratur ist ein einziges Gewimmel von solchen „Ehren“-Konflikten (Effi Briest, Anna Karenina und überhaupt die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, aber auch Don Quijote) und im „Korpsgeist“, wie wir ihn aus geschlossenen Gruppen mit rigiden Innenregeln kennen (Armee- oder Polizeieinheiten, Absolventen von „Elite“-Schulen, privilegierte Gruppen) lebt dieser alte Ehrbegriff weiter – heute oft zur verständnislosen Belustigung der Umgebung.
In unserer Gesellschaft herrscht heute eine merkwürdige Ambivalenz: Von „Ehre“ und ihren Ablegern ist zwar oft die Rede. Die eigene Ehre gilt den meisten noch immer als Inbegriff eines zu verteidigenden Persönlichkeitskerns. Zugleich aber werden Menschen, die nachdrücklicher als andere um ihre Ehre streiten, als kleingeistig, unsouverän, ja querulatorisch dargestellt und nicht selten verlacht. Der sprichwörtliche „Nachbarstreit“ um längst vergangene Beleidigungen ist bei Unbeteiligten immer wieder Gegenstand der Schadenfreude.
Dieses Bild setzt sich fort, betrachtet man die Praxis der (Straf-)Verfolgung: Wer bei Polizei oder Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen Beleidigung oder übler Nachrede stellt, erlebt alles Mögliche, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber keine verständnisvoll „opferorientierte“ Behandlung, wie sie Kennzeichen und Ziel des Strafverfahrens neuer Art sein soll. Vielmehr wird der Anzeigeerstatter von genervten Polizeibeamten nach Hause geschickt und zur Zurücknahme der Anzeige gedrängt. „Da kommt sowieso nichts raus“, weiß der diensttuende Polizeibeamte meist, der andernfalls eine einstündige Anzeigenaufnahme zu schreiben hätte.
Man nennt eine solche Verhaltensweise: „Herunterdefinieren“. Sie ist in der polizeilichen Arbeit sehr verbreitet und hat, etwa im Zusammenhang mit der Deeskalation von aggressiven Situationen, durchaus Sinn. Die Grenzen zur Rechtsverweigerung sind aber fließend und sie verlaufen oft auch nicht nach sachlichen Gesichtspunkten, sondern nach Vorurteilen und Interessen. Während also etwa im Bereich der Eigentumskriminalität (Diebstahl, Raub) kaum ein Polizist auf die Idee kommt, dem Anzeigeerstatter zu raten, erst noch ein einmal drüber zu schlafen oder nachzudenken, ob er die Sache nicht vielleicht nur verlegt hat, werden etwa häusliche Gewalttaten sehr oft zum „Beziehungsstreit unter Alkohol“ herunterdefiniert. Und so ist es auch mit Beleidigungen.
Merkwürdig! Warum sind wir so tief „verletzt“, wenn uns ein anderer verachtungsvoll behandelt, und verachten zugleich diejenigen, die sich auf formellem Weg, also über eine Strafanzeige, Genugtuung verschaffen wollen?
Die Ehre
Das „Rechtsgut“, also der Schutzgegenstand der Beleidigungsdelikte ist – jedenfalls im Kern – die „Ehre“. Dieser Gegenstand erschließt sich aus dem Gesetz selbst nicht, seine Bedeutung wird vielmehr schon vorausgesetzt. Für die meisten Menschen ist das kein Problem, denn fast jeder ist sich sicher zu wissen, was „Ehre“ ist – jedenfalls was der eigenen, persönlichen Ehre unterfällt. Schwieriger wird es in Randbereichen, wie etwa der „Ehre Verstorbener“ oder gar der „Ehre juristischer Personen“.
Ehre ist eine „Zuschreibung“, sagt die Rechtslehre, manche formulieren, sie sei ein „Anerkennungsverhältnis“. Beide Begriffe weisen darauf hin, dass es um eine soziale Eigenschaft geht, also um eine Bewertung, die nur zwischen (verschiedenen) Menschen Sinn hat, dem Einzelnen aber nicht „von Natur aus“ zukommt. Der fiktive Robinson auf seiner Insel also hat „Ehre“ nur deshalb, weil er die Vorstellung davon, dass er sich im Anspruch auf Achtung von seinem Diener und den Kannibalen unterscheide, aus England mitgebracht hat. Auch eine „Ehre“ des isoliert gedachten Bürgers als Partner eines „Gesellschaftsvertrags“, wie ihn die Philosophen der Neuzeit konstruiert haben, existiert nur aufgrund von wertenden Vor-Annahmen. Denn der Mensch ist von Anfang an ein soziales Wesen, und von Anfang an ist diese Sozialität normativ geprägt, stützt sich also auf Verhältnisse von Erwartungen und Zumutungen, von „Erwartens-Erwartungen“, auf Erwägungen des „Dürfens“, Verlangens, Forderns, also der Legitimität von Herrschaft.
Die „Vertreibung aus dem Paradies“, die sich so oder so in allen Weltentstehungsmythen findet, bezeichnet mit der Formulierung einer Norm (nicht vom Baum der Erkenntnis essen! und dergleichen) den Moment, in welchem der Mensch sich selbst gegenübertritt: normativ, reflektierend. Im „Paradies“ (also im imaginierten Zustand der „Natur“) gibt es keine „Ehre“, ebenso wie es dort keine Feindschaft und keine Vorschriften gibt – nur Ursachen und Wirkungen.
Das Tier also hat keine „Ehre“. Das klingt provokativ, da wir uns angewöhnt haben, von der „Würde“ des Tieres zu sprechen. Aber solche Sprachregelungen sind ja nur Reflexe auf komplizierte Ableitungen: Zum einen hat jene „Würde“ die Menschen nie interessiert, wenn es um die Nutzung von Tieren als Ressource geht. Zum anderen unterscheiden wir feinsinnig zwischen den angeblichen „Würde“-Stufen: Primaten und Delfine haben viel, Ratten, Heringe und Stubenfliegen ziemlich wenig „Würde“. Da es der Ratte aber egal sein kann, wie der Delfin behandelt wird, muss sich der Maßstab außerhalb von beiden befinden. Dieser Maßstab sind: Wir selbst. Je menschenähnlicher ein Lebewesen ist, desto mehr sind wir geneigt, ihm „Rechte“ zuzuschreiben und es mit Attributen wie „Würde“ auszustatten. Die Ehre von Regenwürmern und Kakerlaken hat selbst unter sehr naturverbundenen Menschen nur wenige Verfechter. Die Beleidigung von Rosen oder Erdbeeren schließlich trifft nicht diese, sondern ihre Züchter, und Lebewesen wie Giersch, Fadenwurm und Bakterie können sanktionslos unbegrenzt beschimpft werden.
Diese Sicht der Dinge ist, das muss man erwähnen, nicht konkurrenzlos. Wer etwa religiös ist und an einen oder mehrere Götter glaubt, die als subjektive Bewusstheiten zwischen dem Menschen und der Unendlichkeit vermitteln, der behauptet oft einen „Wert“ des Menschen und/oder anderer Lebewesen auf einer scheinbar absoluten Ebene, da er seine Relation und „Zuschreibung“ eben aus der sozialen Beziehungsebene in eine „göttliche“ verlagert: Er denkt sich Gott sozusagen als neutralen Zeugen für die (eigene) Ehre. Da er freilich trotzdem – jedenfalls in sogenannten modernen Religionen – den Menschen nicht mit dem Regenwurm gleichsetzt, wird die Sache kompliziert. Der unter einer (gedacht göttlichen) Normativität lebende Mensch „verhandelt“ sozusagen mit seinen Göttern über Würde und Ehre der Welt und seiner selbst. Das ist die Geschichte von Odysseus, dem listenreichen.
Dasselbe vollbringt, wer jene Beziehung in eine metaphysische Betrachtung der „Natur“ hineinliest: „Ehre“ ist danach ein anderer Ausdruck für „Würde“, und diese kommt dem Menschen – lässt man Gott aus dem Spiel – allein deshalb zu, weil er sich diese Frage stellt. Das ist leider ein ziemlich schwacher Ersatz: Dass „Ehre“ letztlich nichts anderes sei als eine Funktion der (Neuro-)Biologie, ist ein armseliges Placebo für die schöne Vorstellung, (ein interessierter) „Gott“ kümmere sich höchstpersönlich darum, dass jedem einzelnen an Achtung zukommt, was er nach dem Ratschluss ewiger Gerechtigkeit verdient habe. Diese Vorstellung leidet daran, dass die „Ewigkeit“ jener Bewertung seit jeher und ganz offensichtlich über die soziale Struktur der jeweiligen Gesellschaft nicht hinausreicht: Das wäre denn doch ein merkwürdiger Gott, der durch alle Zeit immer nur dasselbe weiß wie die, die ihn anbeten.
Wie auch immer: Beleidigung ist Verletzung der Ehre. Diese ist ein soziales Konstrukt. Sie ist deswegen aber nicht „fiktiv“, überflüssig oder irrational, sondern ein überaus wichtiger Teil des normativen Kitts, der Gesellschaften zusammenhält. Sie ist Selbst- und Fremdzuschreibung von „Verdiensten“, Wert, Herrschaft. Daher kann der Inhalt der Ehre nicht von der (jeweiligen) Form der Herrschaft getrennt werden. Wenn dies ein wenig nach dem Marx´schen Verständnis vom „Überbau“ klingt: Genau so ist es gemeint.
Die Beleidigung
Beleidigung ist ein Äußerungsdelikt, setzt also voraus, dass ein Mensch (der Täter) einen „ehrverletzenden“ Gedankeninhalt über einen anderen Menschen (das Opfer) gegenüber diesem selbst oder einer dritten Person äußert. Beleidigung setzt gemeinsame Sprache voraus. Hunde und Katzen mögen einander bedrohen, sie beleidigen sich nicht.
Voraussetzung ist also stets ein kommunikativer Akt. Dass eine Person ihre eigene Ehre verletzen könne, ist nur ein sprachliches Bild, das eine Bewertung durch Dritte widerspiegelt. Zu den expressiv-phonetischen kommen unendliche Möglichkeiten der gestisch-konkludenten Beleidigung. Sie beginnen mit winzigen, für Außenstehende kaum wahrnehmbaren Abweichungen von einer Ordnung des Handelns oder Sprechens. Solche als ehrverletzend empfundenen Abweichungen erschließen sich nur aus genauer Kenntnis der kommunikativen Strukturen einer jeweiligen Gesellschaft und ihrer Schichten. Allgemein deutlich werden sie insbesondere in der (zeitlichen und sozialen) Entfernung. Je undifferenzierter die Herrschaft in Gesellschaften verteilt wird, desto offensichtlicher und „öffentlicher“ sind Strukturen einer „Ehre“ als normatives Privileg: etwa in kastenmäßigen, höfischen und religiösen Hierarchien.
Mit den Worten: „Als ich noch Leutnant im …Regiment war, …“, soll Winston Churchill, ein Angehöriger des englischen Hochadels und gewiss mit allen Feinheiten der Etikette vertraut, einst seinen König beleidigt haben, da er nicht – wie erwartet – formulierte: „Als ich noch die Ehre hatte, als Leutnant im … Regiment Eurer Majestät zu dienen“. Wie rührend!, denkt der aufgeklärte Leser der Gesellschaftsgazette. Aber hundert Jahre früher konnte sogar ein abgespreizter kleiner Finger zum Duell auf Leben und Tod führen. Heutzutage gelten „Bitch“, „Freak“ oder „Gangster“ vielen als Ehrentitel, die Eigentümer der längsten Jachten der Welt sind froh, wenn sie als „Oligarchen“ tituliert werden, und die Polizei macht Werbung für „Bullen“. Die Ehren-Frage, wer bei der Begegnung im öffentlichen Raum den Hut als erster und wer als zweiter zu lüpfen habe, scheint in Zeiten der Basecaps Lichtjahre von der Wirklichkeit entfernt, und selbst das Unterbieten sämtlicher Erwartungen an menschenwürdige Kleidung bei hochoffiziellen Anlässen veranlasst schlimmstenfalls noch ein „Geschmacks“-Bashing in People-Zeitschriften.
Angesichts solcher Beispiele könnte man fast denken, die „Ehre“ habe als soziales Differenzierungsmedium ausgedient. Das stimmt aber nicht. Dagegen spricht nicht nur – theoretisch – ihre Bedeutung als sozialer Sachverhalt. Dagegen spricht auch – praktisch – die ununterbrochene gesellschaftliche Diskussion um Sachverhalte der „Ehre“. Sie laufen an der Oberfläche, viel mehr aber noch unterhalb dieser Ebene, über Bilder, Identifikationen, Bewertungen.
Die Ehre und ihre Bedeutungsformen begegnen uns täglich hundertmal: in endlos wiederholten filmischen Darstellungen von der Ehre des Kriegers über die des Außenseiters bis zur Ehre des geistig Behinderten; von der Ehre der Opfer bis zur Ehre der Täter, und der Ehre der Kinder von beiden. Im Knast und bei den Hell’s Angels schwadroniert man, wenn es sich ergibt, sogar noch über die Ehre von „Harakiri“-Suizidenten.
Will sagen: Die Bedeutungsebenen der Ehre scheinen sich im selben Maß aufgelöst zu haben, in dem die normativen Strukturen unserer Gesellschaft erodiert sind. Das ist richtig und falsch zugleich. Vor einhundert Jahren war die Ehre des deutschen Offiziers, des Gutbesitzers, des Fabrikanten oder des königlichen Beamten etwas qualitativ anderes als die Arbeiter- oder Handwerkerehre, die Ganovenehre oder die Ehrbarkeit der allenthalben verschacherten Frauenzimmer (Wer mag, lese einmal wieder den Untertan von Heinrich Mann, oder sehe den kongenialen Film von Wolfgang Staudte!).
Und diese Differenzierung betrifft nur die uns vertraute bürgerliche Gesellschaft in der Mitte Europas! Noch hundert Jahre vor deren Triumph war die Ehre eines Adligen von der eines Bauern so unterschieden wie die Natur von Mensch und Ochse, und noch der zwielichtigste Sprössling aus altem Adel hatte mehr „Ehre“ als jeder steinreiche Kaufmann. Heute haben viele vergessen, was meine Urgroßeltern noch als Alltag kannten. Dabei ist es für außerordentlich viele noch heute Alltag: Ihre Ehre bestimmt sich nach Kaste, Stand, Rasse, Geschlecht.
Zeichen der Entehrung
Weil uns die „Ehre“ so unglaublich wichtig ist, weil sie die Bewertung der Person innerhalb der Gesellschaft transportiert, achten wir auf geringste Anzeichen der Ent-Ehrung: Wer uns „nicht grüßt“, dem schwören wir innerlich Vergeltung. Wer uns in jener Gesellschaft herabsetzt, auf deren Wohlwollen es uns ankommt, ist unser „Feind“. In Formen, die sich ständig verändern, ist dies alltägliches Geschäft. Aber da unsere Gesellschaft sich in ihren äußeren Formen stetig wandelt und in mancher Hinsicht normativ und sozial unberechenbarer geworden ist, reicht es nicht, alle zwei Jahre einmal nachzuschauen, ob die Parameter noch stimmen: Heute reden wir von zwei Wochen. Das erzeugt Unsicherheiten.
Ein schönes Beispiel ist der Mittelfinger: Schockierend sei, so meint eine durch alberne Kampagnen aufgestachelte Öffentlichkeit, der Beleidigungsgehalt jener Geste, die wahlweise als „Leck mich am Arsch“, „Fick Dich selbst“, „Lass mich in Ruhe“ oder „Du mich auch“ gedeutet werden darf – mit Aussicht auf dreißig weitere Verbalisierungen der Missachtung. Um den „Stinkefinger“ wird eine symbolische Schlacht geschlagen über die Geltung oder Nichtgeltung von „verbindlichen“ Strukturen der „Ehre“ und über die Formen der Verletzung. Diese Schlacht ist auf der Oberfläche längst verloren. Auch das Schauspiel ist, wie groß auch die Schlagzeilen sein mögen, verlorene Mühe: Im Grunde weiß jede(r), dass zwischen dem Stinkefinger des Mannschaftsführers Effenberg, des Kandidaten Steinbrück und des griechischen Finanzministers (falls nicht gefälscht) kein sinnhafter Zusammenhang besteht.
Noch lustiger ist die Diskussion darüber, ob die Verweigerung des aus dem 18. Jahrhundert herübergeretteten „Langbinders“ (vulgo: Krawatte) im Jahr 2015 ernstlich als konkludent „beleidigende“ Geste zu verstehen sei. Staatsmänner und Kundenberater von Sparkassen bevorzugen den dreifachen Windsor; Outlaws (Kim Jong-Un, Fidel Castro, Herr Varoufakis) und Künstler (Karl Lagerfeld, Keith Richards) folgen anderen Inspirationen.
Vom Wolkenreich zurück in die Gosse: Von allen Menschen sind gegen den albernen Stinkefinger erfahrungsgemäß am meisten empfindlich: latent schwule oder sexuell desorientierte junge männliche Einwanderer aus südlichen Ländern sowie deutsche Polizisten mit und ohne Fachhochschulausbildung.
Die Ersteren haben, wie wir wissen, ohnehin große Ehr-Probleme. „Ich ficke Deine Mutter/Schwester/Tante Waltraud“ zählt, wie der Strafrichter weiß, zu den absolut bevorzugten Triggern für Gewalttaten aller Art und Schwere. Das Maß der Beschränktheit, mit welcher sich Angehörige einer verachteten Unterschicht auf genau die Mechanismen einlassen, welche sie ausgrenzen, ist immer wieder bemerkenswert.
Die beleidigten Polizisten sind ein Phänomen eigener Art. Sie können das, liebe Leser, ausprobieren, indem Sie im Vorbeigehen oder -fahren Ihren rechten Mittelfinger gegen ein beliebiges Polizeifahrzeug recken. Sie werden eine gemeinhin als „kafkaesk“ bezeichnete Episode Ihres Lebens erleben, die Ihnen einen bleibenden Eindruck von der Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats verschafft.
Sie endet, wie sie enden muss: mit 20 bis 40 Tagessätzen Geldstrafe. Aber vielleicht ist es das wert: Am eigenen Leib zu erleben, wie sich Zeichen und Bedeutungen wahllos verselbständigen können. Wie in einer Kultur des permanenten Herabwürdigens jeder wertvollen menschlichen Eigenschaft, des ununterbrochenen überdimensionierten Verrats, der Erfindung ganzer Industriezweige der Entwürdigung und Verhöhnung sich ein paar Polizeiobermeister und eine Amtsrichterin aufmachen, die Ehre der Polizei, der Ämter und des Staates selbst zu verteidigen gegen die Missachtung der durch sie beschützten Bürger.